„Wir bringen unsere Strafverfahren auf die Höhe der Zeit. Eine digitale Dokumentation der Hauptverhandlung ist überfällig.“
Mit diesen Worten des Bundesjustizministers, Dr. Marco Buschmann, veröffentlichte das Bundesjustizministerium am 22. November 2022 den Referentenentwurf für ein Gesetz zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung (sog. Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz, kurz DokHVG).
Der Gesetzgeber erfüllt damit auch Verpflichtungen des Koalitionsvertrags, die die regierende Ampelkoalition vereinbart hat.
Bisherige Rechtslage
Was bisher nicht möglich war, soll so in Gesetzesform gegossen werden. Nach aktueller Rechtslage sieht die Strafprozessordnung (StPO) zur Dokumentation der Hauptverhandlung eine schriftliche Protokollierung der Hauptverhandlung durch ein Hauptverhandlungsprotokoll vor (§§ 271 ff. StPO).
In den erstinstanzlichen Hauptverhandlungen vor den Landgerichten und Oberlandesgerichten werden dabei aber nur ausnahmsweise einzelne Vorgänge oder eine gesamte Aussage wörtlich in das Protokoll aufgenommen (§ 273 Abs. 3 StPO). Grundsätzlich werden nur die wesentlichen Förmlichkeiten festgehalten, um deren Beachtung in der Revisionsinstanz überprüfen zu können (sog. Formalprotokoll). Anders ist dies vor den Amtsgerichten. Dort werden zumindest die wesentlichen Ergebnisse der Vernehmungen in das Protokoll aufgenommen (§ 273 Abs. 2 S. 1 StPO).
Für die Verfahrensbeteiligten entsteht dadurch in den erstinstanzlichen Hauptverhandlungen vor den Landgerichten und Oberlandesgerichten das Problem, dass keine objektive und zuverlässige Dokumentation des Inhalts der Hauptverhandlung erfolgt.
Vor allem Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte sowie Verteidigerinnen und Verteidiger müssen deshalb jeweils eigene Notizen zum Inhalt der Hauptverhandlung machen und können sich nicht vollumfänglich auf das Hauptverhandlungsgeschehen konzentrieren. Die Mitschriften sind zudem sehr subjektiv geprägt, sodass spätere Streitigkeiten über den genauen Inhalt der Hauptverhandlung vorprogrammiert sind.
Besonders vor dem Hintergrund der zunehmenden strafgerichtlichen Umfangsverfahren ist diese Rechtslage nicht mehr zumutbar. Es handelt sich um Großverfahren an den Landgerichten und Oberlandesgerichten, die sich mit komplexen Sachverhalten befassen und deswegen unter anderem mehrere Jahre dauern können (z.B. bei Fällen von Wirtschaftskriminalität wie der „Cum-Ex-Skandal“ oder der Fall „Wirecard“). Kein Verfahrensbeteiligter kann sich im langen Verlauf solcher Verfahren an den genauen Ablauf von einzelnen Hauptverhandlungstagen erinnern.
Geplante Änderungen
Durch den neuen Gesetzesentwurf will der Gesetzgeber nun eine gesetzliche Grundlage für eine digitale Inhaltsdokumentation der erstinstanzlichen Hauptverhandlung vor den Land- und Oberlandesgerichten ermöglichen und den Verfahrensbeteiligten ein verlässliches Arbeitsmittel für die Aufbereitung des Hauptverhandlungsgeschehens zur Verfügung stellen. Dafür soll die gesamte Hauptverhandlung in erstinstanzlichen Verfahren vor den Land- und Oberlandesgerichten in Bild und Ton aufgezeichnet werden (§ 271 Abs. 2 S. 1 StPO-E).
Außerdem ist die automatisierte Übertragung der Tonaufzeichnung mittels einer Transkriptionssoftware in ein elektronisches Textdokument zentraler Bestandteil des Entwurfs (§ 271 Abs. 2 S. 2 StPO-E). Die Verfahrensbeteiligten sollen einen möglichst zeitnahen Zugriff auf die Aufzeichnung und das Transskript erhalten.
Das bereits vor dem Referentenentwurf geführte Formalprotokoll der Hauptverhandlung soll durch die Bild-Ton-Aufzeichnung nicht ersetzt werden und steht den Verfahrensbeteiligten weiterhin als Arbeitsmittel zur Verfügung (§§ 271, 273 Abs. 3 und 6, 274 Abs. 2 StPO-E).
Im Falle technischer Schwierigkeiten oder Fehlern räumt der Entwurf dem Fortgang des Strafverfahrens gegenüber der Verfügbarkeit der digitalen Dokumentation den Vorrang ein (§ 273 Abs. 2 StPO-E).
Die Persönlichkeitsrechte der aufgezeichneten Personen werden verfahrensrechtlich und materiell-strafrechtlich geschützt, insbesondere zum Schutz vor einer Veröffentlichung und Verbreitung der Aufzeichnungen (§ 273 Abs. 1, 4, 5, 6, 7 und 8 StPO-E auch in Verbindung mit § 32f Abs. 4 und 5 StPO und § 499 StPO, § 353d Nr. 4 StGB-E). Die Aufzeichnungen sind beispielsweise zu löschen, wenn das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen oder sonst beendet ist. Die insgesamt aus den persönlichkeitsschützenden Regelungen resultierende Pflicht zur persönlichkeitsschonenden Aufzeichnung lässt dabei auch technische Maßnahmen zum Schutz besonders gefährdeter Verfahrensbeteiligter etwa bei der Wahl der Aufnahmeperspektive oder durch eine Verpixelung zu.
Der Bundesgesetzgeber musste bei der Gestaltung des Entwurfs allerdings darauf achten, dass die Justiz – abgesehen von der Bundesjustiz – weitgehend Ländersache ist. Der Gesetzesentwurf sieht deshalb bei der technischen und organisatorischen Umsetzung Spielraum für die Länder vor, damit diese insbesondere den unterschiedlichen Gegebenheiten in den Landesjustizen und an den Gerichten Rechnung tragen können.
Auswirkung auf Beschuldigte
Kriminalpolitisch ist das Gesetzesvorhaben ein Zugewinn für den Rechtsstaat. Eine digitale Dokumentation der Hauptverhandlung entspricht nicht nur den Möglichkeiten der heutigen Technik, sondern ermöglicht auch eine rechtsstaatliche Kontrolle.
Das Anfertigen individueller handschriftlicher Notizen durch die Verfahrensbeteiligten ist fehleranfällig. Die objektive und verlässliche digitale Dokumentation ermöglicht es der Verteidigung dagegen Verfahrensfehler zweifelsfrei nachweisen und gegebenenfalls rügen zu können. Dadurch wird auch die Rechtsstellung des Beschuldigten verbessert, der vor unbewusst subjektiven Verzerrungen sowie vor bewusster Willkür seitens der Gerichte und der Staatsanwaltschaften besser geschützt wird.
Durch eine digitale Verhandlungsdokumentation können nicht nur der Beschuldigte und seine Verteidigung das Urteil genauer kontrollieren und ggf. angreifen. Auch die Grundlage für die Entscheidungsfindung durch erstinstanzliche Gerichte und Revisionsgerichte wird verbessert.
Die neuen Regelungen sind damit ein wesentlicher qualitativer Gewinn für die Wahrheitsgewinnung.
Ausblick
Die Einführung der Aufzeichnungs- und Transkriptionspflicht erfolgt ein Jahr nach Verkündung, verbunden mit einer Pilotierungsphase bis zum 1. Januar 2030. In dieser Phase können die Länder abweichende Regelungen treffen, ab wann und an welchen Gerichten oder Spruchkörpern aufgezeichnet wird (Art. 2, 3 und 5 des Referentenentwurfs).
Einschränkend regelt der Entwurf aber für die sog. Staatsschutzsenate der Oberlandesgerichte, dass die Aufzeichnung und Transkription bereits spätestens ab dem 1. Januar 2026 erfolgen muss (§ 19 Abs. 1 S. 2 StPOEG-E). Dies setzt voraus, dass erste Pilotierungen vor den Staatsschutzsenaten bereits im Jahr 2025 erfolgen.
Dr. Marco Buschmann musste aber nach der Veröffentlichung des Entwurfs Kritik vor allem aus der Justiz selbst zur Kenntnis nehmen. Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte befürchteten, dass Zeugen sich unter anderem durch die Videoaufzeichnung eingeschüchtert fühlen könnten. Außerdem warnten sie vor einer erheblichen Mehrbelastung der zeitlich und personell ohnehin schon überforderten Justiz.
Erst Anfang April 2023 besserte der Bundesjustizminister vor dem Hintergrund der Kritik nach. Insbesondere sollten die Länder die Verpflichtung zur flächendeckenden Aufzeichnung der Hauptverhandlungen bei den Staatsschutzsenaten erst zum 1. Januar 2028 umsetzen müssen und nicht bereits Anfang 2026. Bei den Landgerichten bleibe es bei einem „Einführungskorridor bis zum 1. Januar 2030“.
Außerdem wird die Videoaufzeichnung nur noch optional eingeführt. Laut dem neuen Vorschlag des Bundesjustizministers soll die Tonspur und die digitale Transkription für alle verpflichtend bleiben, die Länder sollen aber auf eine Einführung der Videoaufzeichnung verzichten können.
Dr. Marco Buschmann muss im kommenden Gesetzgebungsverfahren aber darauf achten, nicht die Chance zu vertun, einen wirklichen Schritt in Richtung bestmöglicher Wahrheitsfindung zu machen. Beachtet werden muss, dass der überwiegende Anteil menschlicher Kommunikation durch Mimik, Gestik, Körperhaltung und Blicke nonverbal ist. All dies gehört zur Würdigung einer Aussage dazu und kann nur durch eine Videoaufzeichnung dokumentiert werden.
Länder und Verbände können zu dem angepassten Entwurf jetzt Stellungnahmen abgeben. Danach wird ein finaler Gesetzesentwurf erstellt, dem das Kabinett zustimmen muss und über den dann der Bundestag entscheidet.